beiträge

einführung

aicher selfie „wer es mit kommunikation zu tun hat,
muss auf kunst verzichten”

In diesem Blog finden Sie eine unsystematische und subjektive Kompilation von Auszügen und Eindrücken aus dem Lebenswerk von Otl Aicher und eine Fülle von Zitaten aus und zu seinen Büchern und Veröffentlichungen.

„Auf den Schultern von Riesen sieht man weiter…“

Die eingestellten Texte dienen vorrangig dem Zweck, die geplante Ausstellung vorzubereiten und das Wissen über das Lebenswerk von Otl Aicher und Inge Aicher-Scholl zu verbreiten.

Die Zitate sollen die Besucher*innen dieses Blogs nicht vom Erwerb der veröffentlichten Werke abhalten, sondern dazu animieren, sich intensiver damit zu befassen. Daher verwende ich, soweit möglich visualiserte Quellenverweise oder Links.

Der Blog soll, ohne Anspruch auf wissenschaftliche oder kunsthistorische Präzision oder exakte chronologische Zuordnung zum

stöbern – suchen – sammeln – sortieren – veröffentlichen – austauschen – vernetzen

anregen und verfolgt keine kommerziellen Interessen, sondern kulturelle.

Ich wünsche mir von Ihnen, dass Sie sich mit Ihren Beiträgen an der inhaltlichen Ausrichtung der Homepage orientieren und erwarte von Ihnen, dass Sie dabei auch die Rechte Dritter respektieren. 

 

 


 

analog und digital

otl aicher analog und digital 1991 - foto andreas görres

 

Analog (altgriechisch für verhältnismäßig) steht umgangssprachlich auch für: Vergleichbar durch sinngemäßes Übertragen. Das beste Beispiel im allgemeinen Sprachgebrauch ist die Uhr mit Zeigern anstatt digital angezeigten Ziffern.

Otl Aicher hat sich bereits in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts mit philosophischen und weltanschaulichen Fragen auseinandergesetzt. Im Jahr 1979, also noch vor dem Durchbruch des Personal Computers, veröffentlichte er einen Betrag dazu in den theologischen Quartalsheften.

analog und digital war 1991 nach innenseiten des krieges eines der ersten Bücher von Otl Aicher, welches unter seinem Namen veröffentlicht wurde, bei dem nicht seine grafischen Arbeiten im Vordergrund standen, sondern seine Philosophie des Machens und seine hinter der Gestaltung stehende Haltung.

Der Titel analog und digital fußt auf seiner Erkenntnis, dass eine Synthese dieser beiden Pole erforderlich ist, weder das rein analoge Vorgehen, noch der Glaube an die Macht der Digitalisierung führen uns zum Ziel.

Analog bedeutet in diesem Zusammenhang auch, dass wir auf den digitalen Anspruch des wissenschaftlichen Arbeitens: des Zählens, Messens und Vergleichens bewusst verzichten und dafür subjektiv kommentieren, bewerten und versuchen zu begreifen.

analog und digital, 1991 (foto: andreas görres)
© ernst & sohn, berlin

 

In der Einführung zum Buch schreibt Wilhelm Vossenkuhl:

„Ein wesentlicher Aspekt der Arbeiten von Aicher ist deren Verankerung in einer von Denkern wie Ockham, Kant oder Wittgenstein inspirierten „Philosophie des Machens“, die die Voraussetzungen und Ziele sowie die Gegenstände und Ansprüche von Gestaltung zum Thema hat. Aichers Schriften zu Fragen des Designs von der visuellen Gestaltung bis hin zur Architektur liegen in diesem Band in geschlossener Form vor. Wenn Aicher das Analoge und Konkrete dem Digitalen und Abstrakten vorzieht, tut er dies mit philosophischer Absicht. Er relativiert die Rolle der reinen Vernunft. Er kritisiert den Rationalismus der Moderne als Ergebnis der Vorherrschaft des bloß abstrakten Denkens. Wer das Abstrakte dem Konkreten vorzieht, missversteht nicht nur die wechselseitige Abhängigkeit von Begriff und Anschauung. Er schafft nach Aichers Urteil auch eine falsche Hierarchie, eine Rangordnung, die kulturell verhängnisvoll ist. Das digitale, Abstrakte ist nicht höher, größer und wichtiger als das Analoge, Konkrete.“

Quelle: www.amazon.de/Analog-Digital-schriften-philosophie-machens-ebook

An gleicher Stelle findet sich eine lesenswerte Bewertung und kurze Zusammenfassung des Buches:

„Zunächst einmal scheint der richtungsweisende Grafikdesigner und Gestalter Otl Aicher den Blocksatz zu verachten, da zu technisch und funktional und so wurde dieses Buch im Flattersatz gesetzt, was ihm eine eigene Ästhetik verleiht. Hinzu kommt, dass Aicher die Bedeutung von Substantiven für überbewertet hielt und ihre Großschreibung boykottierte. Nach seinem Verständnis sind Verben wichtiger, denn sie stehen für die Tat und den Fluss des Schaffens, während Substantive feststehende, unveränderliche Größen sind und daher einen niederen Stellenwert besitzen. Glücklicher Weise hat er auf die Großschreibung von Verben verzichtet und einen Kompromiss gefunden, indem er alles in Kleinbuchstaben gesetzt hat. Natürlich in seiner eigenen Schrift: Rotis Serif. Das Lesen wird damit auf die Dauer etwas anstrengend, da der Leser oft nicht weiß, wo ein Satz endet und ein neuer beginnt. Auch ist die Kleinschreibung von Namen und Kunststilen etwas gewöhnungsbedürftig.

Das Auge und das Denken sind eine Einheit, während sich das abstrakte Denken des Verstandes davon abgekoppelt und nun ein Eigenleben entwickelt hat. Das Ergebnis dieses Eigenlebens ist die Welt der Größen, der Maße, der Raster, der Statistik und der Berechnung. Kurz: Die exakte Welt ist die falsche Welt, denn sie hat nichts mehr mit dem Menschsein zu tun. Sie ist lediglich ein Werkzeug, das sich nun verselbstständigt und eine entstellte Kultur hervorbringt, die uns ihre Maßstäbe der Exaktheit und Perfektion aufzwingt. Am Ende dieser Entwicklung steht die digitale Welt, die weit entfernt vom Konkreten nur noch abstrakte Werte aufzeigt. Aicher spannt einen Bogen, beginnend mit der Architektur der Gotik und Renaissance über die Industrialisierung, Kants Kritik an der reinen Vernunft, Descartes, Wittgenstein und Bauhaus bis hin zur heutigen bunten Werbewelt, in der Design auf die reine Funktion des Konsums reduziert wird. Dieses Phänomen hat einen Namen und nennt sich: Lifestyle.

Seine Kritik gründet darauf, dass wir unsere Sinneswahrnehmung am Endprodukt des Massenkonsums orientieren, dessen Sinn wiederum nur in Tabellen und Zahlen besteht, die unsere Effizienz aufzeigen. Design ist zu einem Verfallsprodukt geworden, das dafür sorgt, dass permanent neue Produkte geschaffen werden, sobald das alte Design nicht mehr dem Zeitgeist (Lifestyle) entspricht. Deutlich ist dies an solchen Produkten zu erkennen, die Designsprache als einziges Verkaufsargument verwenden. Design ist jedoch viel mehr als nur Berechnung – es ist ein Schaffensprozess, der den ganzheitlichen Sinn einer Sache verkörpert und damit die organische Verbindung zur menschlichen Denkkultur vermittelt. Diese Denkkultur wird nun auf eine rationale Ebene reduziert, die immer mehr in alle Bereiche der Gesellschaft vordringt und sich in einer digitalen Anschauung der Welt fortsetzt. Der Mensch ist jedoch ein analoges Wesen. Er definiert sich durch sein Tun und nicht durch abstrakte Systeme, die Werte lediglich simulieren und sich von ihnen längst abgekoppelt haben.“

Quelle: abraxas, abgerufen am 09.04.20

www.amazon.de/Analog-Digital-schriften-philosophie-machens-ebook

 

Im ersten Kapitel greifen und begreifen führt Aicher die Leser*innen in seine Gedanken- und Erfahrungswelt ein (S. 19):

die relationen zwischen denken und körper sind so eng, daß das, was im denken geschieht, oft in der sprache der hände beschrieben wird. geist ist offenbar weniger in der der transzendenz als in der hand angesiedelt. weil die hand greifen kann, kann auch das denken begreifen. weil die hand fassen kann, erfassen wir auch etwas in unserem kopf. weil die hand etwas vor uns hinstellen kann, können wir auch etwas durch denken darstellen. weil die hand legen kann, legen wir auch im denken etwas dar. und legen nicht nur dar, wie überlegen, wir legen aufeinander, übereinander. wir stellen nicht nur fest, wir stellen auch auf, eine neue these zum beispiel. wir begreifen nicht nur, wir erfassen nicht nur, wir befassen uns mit etwas, wir wenden und drehen etwas und gelangen schließlich zu einer auffassung.
etwas begriffen haben, steht nicht nur in einer bildlichen analogie mit dem tatsächlichen greifen. die kultur des denkens setzt eine kultur der hand als einem subtilen, sensitiven organ voraus. wenn die hand sich entfalten darf, wenn sie nicht nur arbeitet, sondern auch spielt, wenn sie wahrnehmungen macht, wird sich auch der geist freier entfalten. die plastik der hand ist die plastik des denkens. der begriff ist das begriffene.
nur noch mit dem auge, mit dem sehen, verbinden wir eine ähnliche fülle von worten und begriffen, um denkprozess zu bezeichnen. wir durchschauen und übersehen, wir entwickeln weltanschauungen, perspektiven und blickpunkte.

 

Im Kapitel analog und digital verdeutlicht Aicher seine Erwartungen und Einschätzungen zum „Sieg“ des Digitalen (S.46), vierzig Jahre vor der großen Digitalisierungsoffensive der Bundesregierung im Jahr 2019:

hier ergibt sich ein wichtiger schlüssel zum verständnis moderner kommunikationstechniken. die ersten elektronischen rechner waren analogrechner, die heutigen sind digitalrechner.
bei elektrischen prozessen kann man geschwindigkeit vernachlässigen. infolgedessen war der sieg der digitalrechner zwangsläufig. ihre umwege, ihre primitiven prozesse, ihr vereinfachtes zahlensystem fallen nicht ins gewicht. da sie mit lichtgeschwindigkeit arbeiten, sind sie mit ihrem resultat immer zuerst da, egal auf welch umständliche art sie zu ihrem resultat gekommen sind.
dieser sieg ist so immens, dass ein digitales zeitalter angebrochen zu sein scheint. die menschen legen ihre alten uhren in die schublade und kaufen sich digitaluhren, die im jahr weniger als eine minute falsch gehen. vielleicht wäre der sieg nicht so eindrucksvoll ausgefallen, wenn nicht zwei voraussetzungen hinzugekommen wären: der unaufhaltsame fortschritt der der bürokratie und der erfolg der statistik. […]
schon können wir uns dem zwang der digitalen methode nicht mehr entziehen. der wandel in unserer kultur, in unserem verhalten, in unserem verständnis der welt ist beeindruckend. fast jeder mensch hat bereits eine zweite natur, seine existenz als größe von zahlen und werten.

In seinem Nachwort zu analog und digital schreibt Aicher:

auch in der grafik geht es in hohem maße darum, von der mathematisierung loszukommen, in die diese durch den einfluß etwa der konkreten kunst geraten war. visuelle sprache als mitteilung zu verstehen heißt, aus dem bann exakter, syntaktischer regelspiele herauszutreten und sich der kommunikativen leistung zuzuwenden, dem, was sie an mitteilung anzubieten hat:

 

 


 

kritik am auto

otl aicher kritik am auto 1984 - foto andreas görres

 

Das Buch kritik am auto erschien 1984 als begleitende Publikation zu einer Ausstellung, die Aicher in Zusammenarbeit mit der Bayrischen Rück gestaltet hat. Dies ist insofern bemerkenswert, da sie gleichzeitig das Ende einer mehr als zehnjährigen Zusammenarbeit Aichers mit BMW einläutete. Eva Moser betitelte in ihrer Monographie das entsprechende Kapitel 14: „Otl Aicher und BMW – eine schwierige Liebe“ (S. 242).

Darin führt sie aus, dass die Zusammenarbeit Aichers mit BMW unter anderem auch durch die räumliche Nähe des Firmensitzes zum Olympiagelände in München und den Erfolg Aichers als Gestaltungsbeauftragtem begründet waren. Hinzu kam, dass Otl Aicher „bekennender BMW-Fan“ und selbst begeisterter Motorradfahrer war. Zudem war der Auftrag wirtschaftlich attraktiv und wie so häufig in seinem Leben durch persönliche Bekanntschaft und Freundschaft zum damaligen Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Horst Avenarius getragen. Zu Beginn der Zusammenarbeit stand ein Konzept für die komplette Neugestaltung der Geschäftsberichte der BMW AG. Wer Aicher kennt, erkennt sogleich, dass dieser sich nicht damit begnügen wollte, Geschäftsberichte zu gestalten, sondern zunehmend auch das Corporate Design und am liebsten auch noch das Design der Fahrzeuge und der Firmenarchitektur für sein Büro beanspruchte:

an BMW liebe ich eine art technischer ethik, die spitzenleistung nicht um der spitzenleistung willen sucht, sondern um des gebrauchs willen.

Gleichzeitig sparte er auch gegenüber BMW nicht an Kritik, als er an Avenarius schrieb, dass

die „position von BMW, was karosseriedesign und produktdesign betrifft, nicht profiliert, selbstbewusst und selbständig genug“ sei. (S. 246)

Insofern ist der Untertitel des Buches: schwierige verteidigung des autos gegen seine anbeter vielleicht auch als indirekte Kritik an seinem damaligen Auftraggeber zu verstehen. Trotz alledem sind aus der zehnjährigen Zusammenarbeit viele weitere Projekte sowohl für BMW als auch für Otl Aicher entstanden. (Siehe auch Bibliographie.)

 

 

otl aicher kritik am auto 1984



otl aicher kritik am auto 1984


otl aicher kritik am auto 1984

kritik am auto, 1984 (fotos: andreas görres)
© ernst & sohn, berlin

 

ist das auto ein zeichen?
wir ringen heute um eine definition für das, was wir unter zeichen verstehen, weil wir in einer kultur der zeichen leben. was ist ein zeichen?
natürlich ist ein auto auch ein zeichen. wir lesen es als zeichen. erst sein zeichencharakter erlaubt es uns, das auto zu klassifizieren, ihm inhalte und bedeutungen zu geben. erst als zeichen werden die dinge human, für den menschen integrierbar, man kann sich lebewesen vorstellen, die ihre umwelt als volumen oder als temperatur erfahren. unser bewußtsein ist ein augenbewußtsein.
aber zeichen ist nicht gleich zeichen. es gibt nicht nur die dinge als zeichen, sondern auch zeichen, die aps einer kultur kommen, zeichen als konvention. ihre bedeutung ergibt sich aus einer übereinkunft. ein zylinder, der einmal ein hut war, ist nur noch zeichen eines status, als solcher sogar im verschwinden, der hut als kopfbedeckung bleibt aktuell, ein pfeil ist ein zeichen als bedeutungsträger geblieben, obwohl es den pfeil als waffe nicht mehr gibt. und ein einhorn oder ein greif sind tiere, die es nie gegeben hat. auch buchstaben kommen in der natur nicht vor, trotzdem gibt es falsche und richtige buchstaben. es gibt schreibfehler, druckfehler. so wie es schlechte und gute werkzeuge gibt. es gibt richtige und falsche bilder von dingen, zeichen sind nicht wertneutral. das maß ihrer qualität ist die übereinstimmung. entweder die übereinstimmung mit einem ding oder mit einer tätigkeit oder mit einer konvention.
ein bläßlicher film gibt ein falsches bild der wirklichkeit. ein messer ist ein schneidobjekt und kein schraubenzieher. und ein wegweiser mit umgedrehtem pfeil ist eine irreführung. das klingt vielleicht plausibel und auch erschöpfend.
aber die schwierigkeiten fangen damit erst an, wir sind in eine als-ob-kultur eingetreten und werden mit täuschungen überschüttet, auf der lebensmittelpackung wird einem ein produkt vorgeführt, das meistens in widerspruch zu ihrem inhalt steht. und wenn gewisse politiker frieden sagen, meinen sie das geschäft mit der rüstung, das gelegentliche kriege voraussetzt, das fördert die flucht in eine zeichenwelt eigener art. es gibt nämlich eine gruppe von zeichen, die außerhalb jeder konvention stehen, die für sich existieren ohne übereinstimmungen mit etwas, gewissermaßen ihre eigenen qualitäten darstellen. das sind farben, figuren wie quadrat und kreis, oder töne.
der ausstieg aus einer kaputten welt läßt sich zweifels- ohne bewerkstelligen durch eine flucht in eine welt der farben, der musik und der figurationen. der grad der verdrehungen, täuschungen, irritationen kann ein ausmaß angenommen haben, wer weiß es, daß korrektur und erneuerung der zeichen als sinnlos erscheint und man sich in eine welt ohne realitäten stürzt, in eine welt der bloßen zeichen. man ist nicht mehr auf übereinstimmungen bedacht, eher auf provokationen, auf sinnkonflikte. denn die übereinstimmung eines zeichens mit seinem gegenstand ist sein sinn. genau der aber wird in frage gestellt. es gibt sinnlose autos. jede menge. so gibt es übergroße autos, straßenkreuzer, vorfahrtslimousinen, staatskarossen, blähungen einer blechkultur. und also fahren kulturzyniker gerade solche autos, oder man fährt das überholte auto, das demolierte, in jedem fall das entfremdete. kalifornien kann ganze museen füllen mit einem auf die straße gegangenen dadaismus.
die autozivilisation hat ein großes repertoire, die widersprüche der welt zum zeichen zu erheben und sich zurückzuziehen in eine transzendenz des unsinns und des absurden. nur schließt sich damit wieder der kreis. das ganze hat sinn.
der unsinn ist eine anklage der sinnlosigkeit. (S.68)

 

 


 

innenseiten des krieges

otl aicher innenseiten des krieges 1985 - foto andreas görres

 

Über dieses Buch

 

dies ganz außergewöhnliche buch beschreibt, wie es trotz allem möglich war, sich im deutschland der kriegs- und nazizeit freiheit und selbstachtung zu bewahren. schon für den mittelstufen-gymnasiasten aicher, Jahrgang 1922, stand fest, daß er mit der hitlerei nichts zu tun haben wollte; so verweigerte er den beitritt zur hitlerjugend, weswegen er sein abitur nicht ablegen durfte. zwar konnte er dem wehrdienst nicht entgehen, aber er schafft es, unkorrumpiert von machtwahn und immun gegen die faszination durch den krieg, moralisch unbeschädigt aus den schreckensjahren hervorzugehen, auch deswegen, weil er sich gewissermaßen klein machte, sich weigerte, offizier zu werden. otl aicher hat diese aufzeichnungen vierzig jahre nach kriegsende publiziert möglicherweise auch deshalb, weil er manche fehlentwicklung in dieser republik ausmachte. jedenfalls wollte er, wie es im buch heißt, „zu denen gehören, auf deren gesinnung verlaß ist, die im aushalten und durchstehen von geschichte gelernt haben, vor sich selbstachtung haben zu können“, in einer zeit, in der neuerdings die soldaten eine besondere ehre zugesprochen bekommen sollen und die bundeswehr als werkzeug der politik für auslandseinsätze benützt wird, ist dies buch aktuell und wichtig. die nachwachsende generation kann darin viele bedenkenswerte reflexionen finden, zum beispiel: „wer sich mit der opposition im kopf zufrieden gibt, zieht sich in die bürgerliche unverbindlichkeit zurück und trocknet darin aus.“
ein buch gegen das austrocknen.

innenseiten des krieges, 1985 (foto: andreas görres)
© s. fischer verlag, frankfurt am main (text: nachwort e-book 2018)

 

 


 

gehen in der wüste

otl aicher gehen in der wüste 1982 - foto andreas görres

 

Anstelle einer persönlichen Einführung zu diesem ganz besonderen Buch (foto: andreas görres) mit großartigen Photographien und weit ausgreifenden und nachdenklichen Texten, wird im Folgenden Otl Aichers vorbemerkung (S. 7) als Ganzes widergegeben. Nur soviel noch vorab:

Dies ist kein Buch, das man vorne beginnen und linear durchlesen sollte, sondern eines, in dem man blättern und stöbern kann und dabei immer wieder Neues entdeckt. Manche Texte eröffnen dabei einen eigenen Zugang zur Schönheit der Fotos.

gehen in der wüste, 1982 (foto: andreas görres)
mit freundlicher genehmigung: © s. fischer verlag, frankfurt am main

 

 

 

 

 

wüstengänger

otl aicher gehen in der wüste 1982 - scan andreas görres

eine vorbemerkung
dieses buch hätte eigentlich gar nicht entstehen sollen, es ist als buch nie geplant gewesen. es ist das protokoll von den unternehmungen dreier wüstengänger, die entweder allein, zu zweit oder zu dritt sich ein bestimmtes gebiet der sahara ausgesucht und in vielen fußmärschen zu eigen gemacht haben.
aber auch als protokoll war es nicht geplant. es sind notizen zufälliger art, beliebig entstanden, und auch das fotomaterial wäre austauschbar, so viel ist vorhanden.
so gesehen, hat das buch keinen autor im strengeren sinn. es ist das buch dreier personen.
da ist eberhard stauß, ein architekt aus münchen, mit dem ich seit jahren beruflich zusammenarbeite. er ist ein geborener trapper. ihm gehört die welt, solange er ein taschenmesser, eine schachtel streichhölzer und ein stück schnur in der hosentasche hat er beherrscht die kultur des einzelgängers und steht sich selbst selten im wege.
dann ist da manuel aicher, der jüngste aus unserer familie, aber schon nicht mehr  mein filius, sondern seine eigene person. auch er ein alleingänger und somit ausgestattet mit dem, was die wüste zuerst erfordert: ständige beobachtung, verbissene reflexion und hartnäckigkeit gegen sich selbst. manuel studiert zur zeit jura.

otl aicher gehen in der wüste 1982 - foto andreas görres

dann bin ich zu nennen, ein grafiker, bei dem als dem ältesten die faszination der wüste allerdings langsam an die grenze seiner physischen möglichkeiten stößt, obwohl er lieber heute wieder aufbrechen würde als morgen. vor jahren musste ich einmal allein ein stück wüste durchqueren. das kann einen für sein ganzes leben fesseln, ich habe damals den schönsten ort der erde gefunden, den ich kenne, mitten in der wüste.
so fing es an. die faszination ist geblieben.
die wüste ist eine denklandschaft. man geht nicht nur zwischen dünen, man geht auch in seinem eigenen denken umher, man macht gedankengänge im gehen verändert sich die landschaft von bild zu bild. es verändert sich auch der gedankenhorizont. das auge zieht es mal hier, mal dort hin, auch die gedanken wildern umher. man wirft sie hinaus, als entwürfe.
so ist ein nicht eigentlich geschriebenes buch entstanden. es hat keinen anfang, kein ende, keinen roten faden. man mag deshalb auch nachsichtig sein einer typographie gegenüber, die verschlungen ist wie ein gang durch dünen.

 

 

 

 


 

 

die welt als entwurf

 

Bereits auf dem Klappentext des im gleichen Jahr 1991 wie analog und digital erschienenen Bandes die welt als entwurf weist Wolfgang Jean Stock einleitend daraufhin, dass die darin versammelten Texte ein substantiell bedeutsamer Teil von Aichers Oeuvre sind.

otl aicher die welt als entwurf 1991 - foto andreas görres

die welt als entwurf, 1991 (foto: andreas görres)
© ernst & sohn, berlin

 

In der Einführung (S. 12/13) führt er aus, dass Aicher „Orte gelungener Zusammenarbeit als ‚Werkstätten‘ bezeichnet. Hier wird nicht geplant und verwaltetet, sondern entwickelt und entworfen. Im Prozess von Überprüfung und Korrektur wird der Entwurf zum richtigen Ergebnis gesteuert. Dieses Prinzip der Steuerung in Alternativen erlaubt den beispielgebenden Beginn im Bestehenden. Es entstehen Modelle einer ‚Welt als Entwurf‘.

Otl Aichers Texte sind Erkundungen jener Welt. Sie gehören substantiell zu seiner Arbeit. In der Bewegung durch die Geschichte von Denken und Gestalten, Bauen und Konstruieren versichert er sich der Möglichkeiten, die Existenz menschlich einzurichten. Nach wie vor geht es ihm um die Frage, unter welchen Voraussetzungen Zivilisationskultur herstellbar ist. Diese Voraussetzungen müssen erstritten werden gegen scheinbare Sachzwänge und geistige Ersatzangebote.

Otl Aicher streitet gern. So enthält dieser Band neben Berichten aus der Praxis und historischen Exkursen zu Design und Architektur auch polemische Einlassungen zu kulturpolitischen Themen. Mit produktivem Eigensinn streitet Aicher vor allem für die Erneuerung der moderne, die sich weitgehend in ästhetischen Visionen erschöpft habe. Noch immer sei der der „kultursonntag“ wichtiger als der Arbeitsalltag. Ohnehin lasse sich Ästhetik nicht auf Kunst reduzieren:

alles konkrete, alles wirkliche hat ästhetische relationen. die kunst als reine ästhetik läuft sogar gefahr, von den ästhetischen nöten der wirklichen welt abzulenken. in keinem fall darf es verschiedene ästhetische kategorien geben, eine reine und ein alltägliche. wir können ja auch nicht in der moral unterscheiden zwischen einer der religion und einer des alltags.

Design als Lebensweise an Stelle von Design als Kosmetik: Otl Aicher vertraut auf die Schulung der Sinne. Sein Lebenswerk bürgt dafür, daß dieses Vertrauen modern bleibt.“

 

Im Kapitel bauhaus und ulm (S. 90) verweist Otl Aicher auf die prägenden Einflüsse und die daraus abgeleiteten Ansprüche aus seiner Tätigkeit als Dozent an der Hochschule für Gestaltung in Ulm:

damals in ulm mußten wir zurück zu den sachen, zu den dingen, zu den produkten, zur straße, zum alltag, zu den menschen. wir mussten umkehren. es ging nicht etwa um eine ausweitung der kunst in die alltäglichkeit, in die anwendung. es ging um gegenkunst, um zivilisationsarbeit, um zivilisationskultur.

 

Im Kapitel die welt als entwurf (S. 185) führt er uns in seine Sicht der Welt ein:

man kann die welt sehen als einen stetig vorgegebenen kosmos, einen gegebenen zustand, in den wir eingebunden sind. so hat es das christliche mittelalter gesehen, aber auch die englischen empiristen.
man kann die welt verstehen als prozeß der entwicklung, in die man hineingeboren ist. dann ersetzt man ein statisches modell durch ein kinetisches. so lernen wir die welt sehen seit lamarck und darwin, und so belieben wir sie heute zu sehen unter dem einfluß des behaviorismus und der verhaltensforschung.
und man kann die welt verstehen als entwurf. als entwurf, das heißt als produkt einer zivilisation, als eine von menschen gemachte und organisierte welt. dann ist sie, auch bei vorgegebener natur, eine welt von entwürfen und auch fehlentwürfen, und die natur wird teil dieser welt und muß sich ihr fügen.
noch für goethe war die welt eine solche von natur und geschichte, und der philosoph aus königsberg ließ für die philosophie nur zwei domänen gelten: die domäne der natur und die domäne der freiheit.

tao-Fazit: Wer sich einen Überblick über den geistigen und philosophischen Kontext und die Entwicklungsgeschichte des Design und der vielfältigen Gestaltungsentwürfe Aichers verschaffen möchte, sollte sich zuerst mit diesen beiden Werken befassen (S. 190f):

die welt, in der der mensch bislang lebte, war die ihn umgebende natur, der kosmos, in dem er stand, und philosophie war die frage, wie wir mit diesem kosmos verbunden sind.
erst seit etwas mehr als einem Jahrhundert beschäftigt sich die philosophie mit den organisationsformen des gesellschaftlichen lebens, darunter den wirtschaftlichen bedingungen seiner existenz. es gibt eine philosophie der arbeit, eine philosophie der produktion, eine philosophie der technik gibt es nicht. keine philosophie, wie technik entsteht, entworfen, organisiert, vermarktet wird und verantwortet werden kann. wir gefallen uns in einer philosophie der erkenntnis und des wissens. eine philosophie des machens und des entwurfs steht aus.
der mensch ist umstellt nicht mehr von natur und welt, sondern von dem, was er gemacht und entworfen hat. gleichwohl wird das machen herabgesetzt. ein denker ist etwas besseres als ein macher, wer organisiert, ist mehr als wer produziert, der manager ist mehr als der ingenieur, die universität ist mehr als die technische hochschule, der bankier ist mehr als der fabrikant. ein handwerker ist ohnehin abgehängt. und wer gar selbst sein gemüse zieht, wird belächelt, man kann es doch kaufen.
auf hegel und marx geht zwar das heute allgemeine bewußtsein zurück, daß der mensch mitglied der gesellschaft erst wird durch sein handeln und seine tätigkeit. aber zwischen tätigkeit, arbeiten und machen sind essentielle unterschiede, die meisten menschen haben nur einen job, aber keine arbeit mehr, und von dem, der arbeitet, ist noch lange nicht gesagt, daß er etwas macht. machen ist ein selbst zu verantwortendes tun, an dem jemand mit konzept, entwurf, ausführung und überprüfung beteiligt ist. das, was er macht, steht unter seiner kontrolle und verantwortung und ist teil seiner selbst, machen ist die verlängerung des ich in die selbstorganisierte welt hinaus, im machen erfüllt sich die person. und dies in dem maße, als ein eigenes konzept, ein eigener entwurf beteiligt ist und in einer ständigen rückkoppelung aus dem machen erkenntnisse gewonnen werden für die korrektur von konzept und entwurf.
nur das schöpferische machen ist wirkliche arbeit, ist entfaltung der person. der entwurf ist das signum der kreativität, durch ihn wird aktivismus und job erst human. eine humane welt setzt eine arbeit und ein machen voraus, die durch den entwurf gekennzeichnet sind, weil im entwurf das motiv der person erscheint.

 

 


 

fragen & anregungen

bitte ihren namen eingeben
bitte eine e-mail-adresse eingeben ungültige e-mail-adresse?
bitte eine nachricht eingeben

wir

andreas görres

tao (at) analogunddigital.org

bernd brandt

galerie.brandt (at) arcor.de 

münchen

was uns leitet:

  • tao: die lehre des weges
  • sharing community
  • wissen demokratisieren
  • visuelle kommunikation
  • hybrid und multimedial 
  • keep it short and simple 

denn:

„die macht der idee
erneuert die idee der macht”


reinhard k. sprenger

 

foto olympiastadion: henning schlotmann 2017

Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.